Wie erkenne ich Radikalisierung?
Radikalisierung ist ein Prozess, in dem sich Menschen zu radikalen bis hin zu extremistischen Sichtweisen und (politischen) Positionen hinwenden. Eine Radikalisierung ist ein individueller und sehr dynamischer Prozess. Deshalb gibt es keine allgemeingültige Checkliste von (vermeintlichen) Anzeichen, durch die man eine mögliche Radikalisierung erkennen kann.
Auch ist ein Prozess der Radikalisierung kein linear verlaufender Prozess, in dem eine stufenartige Radikalisierung bis hin zu extremistischem Denken und Handeln notwendigerweise vorgegebenen ist. Der Prozess kann jederzeit unterbrochen werden oder es werden Stufen übersprungen.
Wenn Sie das Gefühl haben, bei einem Menschen in Ihrem Umfeld eine Radikalisierung zu erkennen, stehen Ihnen in ganz Deutschland Fachkräfte rund ums Thema Extremismus und Prävention unterstützend zur Seite. Diese können Ihnen bei der Einschätzung der Situation helfen und Sie darüber hinaus im Falle einer möglichen Radikalisierung beratend begleiten. Die Mitarbeiter*innen haben jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit tatsächlich und vermeintlich radikalisierten Jugendlichen sowie in der Unterstützung von Eltern, Familien und dem näheren sozialen Umfeld. Darüber hinaus bieten die Beratungsstellen Weiterbildungsangebote für Lehrer*innen und pädagogische Fachkräfte zum Themenfeld. Außerdem halten sie speziell auf Jugendliche abgestimmte Workshop-Formate für Schulklassen oder Jugendgruppen vor.
Sollten Sie Unterstützung benötigen, finden Sie durch die Übersicht unserer Mitgliedsorganisationen die geeignete Beratungsstelle für Radikalisierung, die in Ihrem Bundesland tätig sind.
Was ist ein radikaler Mensch?
In Deutschland ist der Begriff radikal innerhalb der Gesellschaft vordergründig negativ behaftet. Eine radikale Orientierung von Jugendlichen kann sich jedoch in vielfältigen Ausprägungen und unterschiedlichem Verhalten ausdrücken und nicht zwangsläufig in extremistischen Handlungen und Gewalt münden. Radikal und extremistisch sind also nicht das Gleiche.
Zudem verändert sich im Laufe der Zeit die Wahrnehmung darüber, was innerhalb einer Gesellschaft als radikal wahrgenommen wird. Radikalisierung zu erkennen ist daher selten ein leichtes Unterfangen. Politische Initiativen, die sich in Deutschland gegen Atomkraft, den Klimawandel oder für die Gleichberechtigung von Frauen einsetzten, wurden noch bis spät in das 20. Jahrhundert als radikale Gruppierungen verstanden. Es lässt sich jedoch festhalten, dass als radikal wahrgenommene Positionen von dem zu der jeweiligen Zeit gültigen Konsens in Bezug auf das gesellschaftliche Zusammenleben abweichen. Der Begriff radikal steht also immer dem des Normalen gegenüber.
Radikale Einstellungen müssen nicht zwangsläufig in extremistische Gewalt übergehen und die Gesellschaft und den Staat in Gänze ablehnen oder gar angreifen. Nichtsdestotrotz besteht die Gefahr, dass sich radikale Positionen und Einstellungen bei gefährdeten Jugendlichen verfestigen und verstärken. Das kann dazu führen, dass die geteilten Wertvorstellungen innerhalb der deutschen Gesellschaft abgelehnt werden. Dies kann sich im drastischsten Falle auch in Gewalt gegenüber Andersdenkenden und/oder Andersgläubigen oder gegenüber der gesamten Gesellschaft und dem Staat ausdrücken, weshalb es umso wichtiger ist, dass das Schulumfeld und pädagogisches Personal im Wissen darum, wie man Radikalisierung erkennen kann, unterstützt werden.
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Anzeichen einer sich entwickelnden Radikalisierung
Eine Radikalisierung von Jugendlichen zu erkennen kann nicht oder nur sehr eingeschränkt an äußeren Anzeichen (z. B. Kleidung) festgemacht werden. Gleichzeitig finden sich sowohl online als auch offline Angebote, die dies suggerieren. Nicht nur, dass sie wenig hilfreich sind, eine Radikalisierung zu erkennen. In Bezug auf islamistische Radikalisierung stigmatisieren diese Checklisten als muslimisch gelesene Jugendliche, die ihre Religiosität im Islam u. a. über Kleidung oder andere mögliche äußere Merkmale ausdrücken.
Eine mögliche Radikalisierung lässt sich vielmehr durch ihre Prozesshaftigkeit erkennen. Verändert sich das Verhalten von Jugendlichen in relevanten Bereichen in kurzer Zeit wahrnehmbar, kann dies ein Anzeichen für eine Radikalisierung sein. Konsumieren Jugendliche Propaganda von Salafist*innen, werden in ihrem Verhalten oder Aussagen als radikal wahrgenommen, können dies Zeichen für eine mögliche Radikalisierung sein. Auch Veränderungen im sozialen Umfeld, der vermehrte Kontakt zu Salafist*innen nahestehenden Gruppierungen und das Teilen von extremistischen Inhalten können Zeichen sein. Ein Mensch radikalisiert sich in den wenigsten Fällen einfach so. Vielmehr drücken sich meist soziale Bedürfnisse von Jugendlichen in einer sich radikal zeigenden Änderung von Verhalten aus. Lesen Sie hier mehr zu Radikalisierungsprävention.
Wann radikalisieren sich Menschen?
Soziale Bedürfnisse junger Menschen sind es auch, die sie für die Angebote von extremistischen Gruppen ansprechbar machen. Besonders Jugendliche und junge Erwachsene sind eine vulnerable Gruppe, die anfällig für eine Radikalisierung ist. Ereignisse oder Lebensumstände, die als krisenhaft empfunden werden und oftmals die Lebensphase der Jugend kennzeichnen, werden durch die Angebote von Salafisten gezielt angesprochen. Die Suche nach Identität und Zugehörigkeit zu einer Gruppe können Anziehungspunkte für Jugendliche darstellen. Darüber hinaus können die Entwicklungsaufgaben, die Jugendliche zu bewältigen haben, überfordern.
Die salafistische Ideologie, die sich u. a. durch ihr dualistisches Weltbild und ihre Schwarz-Weiß-Sicht auszeichnet, kann für Jugendliche in diesem Fall attraktiv erscheinen. In einer unübersichtlichen und als überfordernd erscheinenden Welt bietet die salafistische Ideologie Orientierung und scheinbar einfache Lösungen. Sie gibt vermeintlich eindeutige Antworten auf die Fragen nach Gut und Böse, Richtig oder Falsch und kann entlastend wirken. Die extremistische Gruppe und ihre Ideologie wirkt zudem sinnstiftend und fängt die Jugendlichen auf. Es wird ihnen sowohl das Gefühl gegeben, gebraucht zu werden als auch von der Gruppe aufgefangen zu werden. Zudem kann die Zugehörigkeit zu einer Aufwertung des Selbst führen. Dadurch, dass man sich zu einer auserwählten Gruppe zugehörig fühlt, die sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt, steigt man in einen elitären Kreis auf. Eine weitere Aufwertung können Jugendliche aus dieser Position heraus durch die Abwertung anderer, nicht der Gruppe zugehörigen Personen erfahren. Diese werden auch sprachlich als Außenstehende oder gar Feinde der eigenen Sache markiert.
Es gibt also ein paar Punkte, die die Ideologie attraktiv für Jugendliche machen:
- einfache Lösungen in einer komplexen Welt
- eindeutige Antworten auf die Fragen nach Gut und Böse, Richtig und Falsch
- Zugehörigkeit
- Aufwertung des Selbst
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Was führt zu einer Radikalisierung?
In Wissenschaft und Forschung werden eine Vielzahl von Faktoren diskutiert, die zu einer Radikalisierung führen. Eine eindeutige Antwort darauf, welche Faktoren letztendlich zu einer Radikalisierung führen, kann jedoch nicht gegeben werden. Grund dafür ist, dass der Radikalisierungsprozess individuell abläuft und dementsprechend im Einzelfall zu betrachten ist.
In der Wissenschaft wird zumeist zwischen sogenannten Push- und Pull-Faktoren unterschieden:
- Push-Faktoren sind Einflüsse, die auf Jugendliche und junge Erwachsene von außen einwirken und sie in die Arme extremistischer Gruppierungen treiben können. Dabei kann es sich zum Beispiel um Erfahrungen von Ablehnung und Diskriminierung oder Misserfolgen in der Schule handeln.
- Unter Pull-Faktoren sind u. a. Angebote der radikalen oder extremistischen Gruppen zu verstehen, die Jugendliche anziehen. Wie bereits im vorangegangenen Text erwähnt, können dies u. a. die Aufwertung des Selbst durch die Zugehörigkeit zu einer elitären Gruppe oder aber auch die Suche nach Identität sein, für die die entsprechenden Jugendlichen keine Angebote außerhalb der salafistischen Szene finden.
Sie wollen mehr zu den Pull- und Push-Faktoren erfahren? Hier haben wir die wichtigsten Informationen zu den Themen Radikalisierung und Deradikalisierung für Sie aufbereitet.
Welche Faktoren jedoch in welcher Kombination und in welcher Ausprägung zu einer Radikalisierung führen oder für eine weitere Radikalisierung im Radikalisierungsverlauf hin zu einer extremistischen Ausprägung führen, kann nicht allgemeingültig gesagt werden.
Auch Faktoren wie soziale Benachteiligung oder mangelnde Bildung, die gesamtgesellschaftlich oftmals als Gründe für eine Radikalisierung angeführt werden, haben keine Allgemeingültigkeit. Wer in sozial benachteiligten Verhältnissen aufwächst oder einen niedrigen Bildungsstand hat, wird nicht zwangsläufig radikal. Genau gilt umgekehrt, dass das Aufwachsen in sozial begünstigten Verhältnissen sowie ein hoher Bildungsstand nicht vor einer möglichen Radikalisierung schützt. Die Reduzierung des Phänomens islamistischer Radikalisierung auf sozial benachteiligte Menschen oder gar ganzer Wohnquartiere fördert vielmehr die Stigmatisierung und Ausgrenzung von Betroffenen, was wiederum zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft und einer vermeintlichen Radikalisierung führen kann.
Welche Rolle spielt Religion?
Festzuhalten ist außerdem, dass der Islam an sich als Religion nicht verantwortlich für eine Radikalisierung von Jugendlichen ist. Auch wenn der Salafismus eine Ausprägung des Islam ist und sich auf die ersten drei Generationen der Muslime bezieht, ist er lediglich eine Quelle, derer sich extremistische Gruppierungen bedienen und sie als vermeintliche Legitimation ihrer Ideologie und ihres Handelns nutzen.
Für die Mehrzahl der sich in Deutschland radikalisierenden Jugendlichen lässt sich sagen, dass Religion in Verlaufe ihrer Radikalisierung lediglich eine untergeordnete Rolle spielte. Ihr Wissen über Religion im Allgemeinen sowie den Islam im speziellen war meist nur sehr oberflächlich. Es speiste sich vor allem aus den Inhalten der Ideologie, die ihnen über Angebote der salafistischen Szene zur Verfügung gestellt wurde. Die Umdeutung der Religion zur Ideologie innerhalb der Gruppe sowie deren Vermittlung durch teils charismatische Prediger waren in der Regel die Grundlagen ihres Verständnisses von Religion. Das veranschaulicht auch, weshalb wir als BAG RelEx von religiös begründetem und nicht von religiösem Extremismus sprechen.
Ablauf und Prozess einer Radikalisierung
Es gibt keinen idealtypischen Verlauf einer Radikalisierung. Der Prozess einer Radikalisierung ist dynamisch, stets individuell zu betrachten und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. An dieser Stelle ist es auch wichtig zu betonen, dass er nicht zwangsläufig in Gewalt münden muss. Der Verlauf kann auch ohne eine Einwirkung von außen verlangsamt oder gestoppt werden. Es ist also nicht so, dass sich ein Jugendlicher nach Beginn einer Radikalisierung auch weiter zu einer extremistischen Ausprägung einer Ideologie hinwendet.
Nichtsdestotrotz sollte man Anzeichen einer Radikalisierung erkennen und ernst nehmen, um Jugendliche in einer herausfordernden Phase ihres Lebens zu unterstützen. Sollte dies für Eltern, Familie, Freunde und das weitere soziale Umfeld überfordernd sein, stehen Betroffenen bundesweit professionelle Unterstützungsangebote in entsprechenden Beratungsstellen zur Verfügung. Sie interessieren sich für dieses Beratungsangebot oder haben Fragen zu dem Thema? Kontaktieren Sie uns gerne!
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Wie lässt sich eine Anwerbung verhindern?
Die radikale Hinwendung zu einer Ideologie ist ein komplexer Prozess und von außen meist nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Dennoch sind Personen im näheren Umfeld von Jugendlichen, also die Eltern, die Familie, Lehrerinnen und Lehrer sowie der Freundeskreis am ehesten in der Lage, Veränderungen im Verhalten der jeweiligen Jugendlichen wahrzunehmen und eine mögliche Radikalisierung rechtzeitig zu erkennen.
Das soziale Umfeld ist bei der Einschätzung, ob der oder die betroffene Jugendliche radikal ist, nicht allein. In Deutschland wird flächendeckend Beratung für betroffene Familien, (pädagogische) Fachkräfte und das soziale Umfeld angeboten. Die jeweilige Beratungsstelle in ihrem Bundesland unterstützt Sie durch ihre Beratung bei der Einschätzung der Situation. Innerhalb der Beratung können Sie abklären lassen, inwiefern der Jugendliche gefährdet ist in eine „religiöse Ideologie“ abzurutschen, sich einer extremistischen Gruppe anzuschließen. Zudem können Sie sich bei der Einschätzung von Propaganda extremistischer Gruppierungen professionell unterstützen lassen.
Hinter einer sich radikal zeigenden Änderung von Verhalten drücken sich meist soziale Bedürfnisse von Jugendlichen aus. Wie Sie eine Radikalisierung erkennen und ihr begegnen können, kann ebenfalls in Angebote der Beratungsstelle vor Ort gemeinsam mit Ihnen erarbeitet werden.