15. November 2023 | BAG RelEx

„Radikalisierung als Bewältigungsstrategie? Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene“ – Rückblick zum Fachtag

Der diesjährige Fachtag der BAG RelEx fand am 20. und 21. September 2023 in Frankfurt am Main statt und widmete sich den Wechselwirkungen von strukturellen und individuellen Faktoren in Radikalisierungsprozessen und deren Bedeutung für die Präventionsarbeit.

20. September 2023 – Inhalte des ersten Tags

Den inhaltlichen Einstieg in den Fachtag machte Toqa Hilal (BAG RelEx) mit einem Impulsvortrag zum Thema ihrer Promotion, der Relation zwischen Othering und islamistischer Radikalisierung. Auf Basis der Analyse von Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich von islamistischen Einstellungen und Gruppierungen distanziert haben, zeigte sie exemplarisch auf, welche Rolle die individuelle Wahrnehmung von strukturellen Problemlagen bei Radikalisierungsprozessen spielen kann. Sie stellte dar, wie Othering als Differenzierungsprozess verschiedene soziale Macht-, Dominanz- und Ungleichheitsverhältnisse in der Gesellschaft beeinflusst und wie sich solchermaßen fremdgemachte/geotherte Personen von der Gesellschaft entfremdet und angefeindet fühlen können – ein Umstand, den Extremist*innen gezielt instrumentalisieren.

Im Anschluss betonte auch Michaela Glaser (Berghof Foundation) in ihrem Vortrag „Radikalisierung“ – individuelle Bewältigungsstrategie für strukturelle Probleme? dass aktuelle, auch strukturelle, Problemlagen alleine nicht zu Radikalisierung führen. Entscheidend ist, wie diese gedeutet und bearbeitet werden – was wiederum durch vorgängige Erfahrungen in unterschiedlichen sozialen Bereichen vorkonturiert wird. Ein adäquates Verständnis individueller Hinwendungen zum Extremismus benötigt eine um diese Zusammenhänge erweiterte Bewältigungsperspektive.  Um „Radikalisierung“ bzw. „Extremismus“ als gesellschaftliche Phänomene zu fassen, bedarf es aus Michaela Glasers Sicht jedoch einen nochmals breiteren Blick. Dazu ist es sinnvoll, Radikalisierungsphänomene auch aus der Perspektive der Konflikt- und Bewegungsforschung zu fassen und sie auch als Ausdruck gesellschaftlicher Konflikte zu verstehen, für die Gesellschaften (bisher) keine andere Form der Bearbeitung finden konnten.

Den Abschluss des ersten Tages bildete eine Podiumsdiskussion zwischen Michaela Glaser, Erdal Tekin (Working Group „Politische Partizipation von muslimisch gelesenen Menschen“) und Rüdiger José Hamm (BAG RelEx). Hier stand die Frage im Mittelpunkt, ob Radikalisierung als individuelle Bewältigungsstrategie angesichts struktureller, gesamtgesellschaftlicher Problemlagen betrachtet werden kann und welche Implikationen sich daraus für die Ausrichtung von Präventionsansätzen ergeben. Dabei wurde hervorgehoben, dass strukturelle Problemlagen wie die Ungleichverteilung von sozioökonomischen Ressourcen sowie Ausgrenzungsprozesse den Handlungsspielraum von Menschen begrenzen, um auf individuelle Krisen zu reagieren. Auch steigende Zukunftsängste und ein großes Misstrauen in die Steuerungsfähigkeit der Politik spielen derzeit eine besondere Rolle in der Gesellschaft. Islamistische Gruppierungen versuchen, all diese gesellschaftlichen Problemlagen für sich zu instrumentalisieren. Insbesondere missbrauchen sie den antimuslimischen Rassismus für eigene Rekrutierungs- und Propagandazwecke und treffen damit auf einen sehr guten Nährboden. Allerdings waren sich die Podiumsteilnehmer*innen einig, dass all diese Faktoren und gesellschaftlichen Krisen keinesfalls zwangsläufig zu einer Radikalisierung führen. Andere, konstruktive Bewältigungsstrategien können z.B. durch Demokratieförderung begünstigt werden – sofern die entsprechenden Ressourcen dafür zur Verfügung stehen.

Die Vorträge von Toqa Hilal und Michaela Glaser sowie die Podiumsdiskussion finden Sie in unserer Mediathek sowie auf YouTube.

 

21. September 2023 – Inhalte des zweiten Tags

Am zweiten Tag bekamen die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich in einem von vier parallelen Workshops vertieft mit einem Thema auseinanderzusetzen.

Der Workshop Stigmatisierende Effekte der Islamismusprävention – Erkennen und Entgegenwirken wurde von Dr. Hande Abay Gaspar (PRIF – Leibniz-Institut für Friedens- und Konflikt­forschung/Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt) durchgeführt. Einleitend gab sie einen Einblick in ihr Forschungsprojekt „Gemeinschaften unter Verdacht – Haben proaktive Sicherheitspolitik und Extremismusprävention nicht-intendierte rassistische Nebeneffekte?“ Im Anschluss wurden mehrere Zitate aus der Praxis in kleinen Gruppen besprochen und auf deren Stigmatisierungspotenzial hin untersucht.
Im darauffolgenden Teil des Workshops ging es um die kritische Selbstreflexion der Präventionsarbeit. Die Teilnehmer*innen diskutierten dabei über die häufig defizitorientierte und sicherheitspolitisch motivierte Förderlogik, die zu einer Verwendung von stigmatisierenden und diskriminierenden Begrifflichkeiten in Projektanträgen führt. Zuletzt stand die Frage im Fokus, wie die Teilnehmer*innen in ihrer täglichen Arbeit mit potenziellen Stigmatisierungen umgehen. Dabei wurde deutlich, dass bei diesem Thema der Wunsch nach weiterem fachlichem Austausch besteht.

Der Workshop Reintegration von Rückkehrer*innen aus jihadistischen Kampfgebieten und ihren Kindern wurde von Claudia Dantschke (Grüner Vogel) und Susanne Wittmann (IFAK) geleitet. Zunächst wurde die Entwicklung der Rückkehr von Personen aus den ehemaligen Gebieten des sogenannten Islamischen Staats (IS) beleuchtet. Anhand von Fallbeispielen wurde verdeutlicht, wie unterschiedlich die rechtlichen Konsequenzen für Rückkehrer*innen ausfallen können. In Hinblick auf Rückkehrerinnen und ihre Kinder wurden verschiedene belastende Faktoren in den Blick genommen, wie z. B. psychische und physische Gewalt durch Männer/Väter, Verlusterfahrungen und Bindungsstörungen durch den Tod des Mannes/des Vaters, ideologische Indoktrination, Krieg, Bomben, ständige Flucht, Hunger sowie der Aufenthalt in Camps unter bisweilen lebensbedrohlichen Zuständen. Es wurde skizziert, wie die ersten Schritte bei der Ankunft in Deutschland für diese Personen aussehen können und welche Herausforderungen dabei auftreten, beispielsweise unterschiedliche Anforderungen von Strafverfolgung vs. Kinderschutz und ein fehlendes Verständnis von Standesämtern für die nachträgliche Beurkundung der Geburt von Kindern, die im Gebiet des IS geborenen wurden. Im Anschluss wurden, ausgehend von den Erfahrungen des Projekts ProKids, individuelle Bedarfe von rückkehrenden Kindern beleuchtet, z.B. psychologische Versorgung (Behandlung von Traumata), pädagogische Versorgung (soziale Kompetenzen, Emotionsregulieren, stabiles Familienleben), und seelsorgerische Versorgung (Trauerbewältigung). Anhand zweier Fallbeispiele setzten sich die Teilnehmenden mit möglich beraterischen Handlungsoptionen auseinander. Abschließend wurden aktuelle Herausforderungen für die Praxis geschildert, z.B. den Umgang von Strafverfolgungseinrichtungen mit Mitarbeitenden zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen (u.a. Problematik des fehlenden Zeugnisverweigerungsrechts) sowie den drohenden Wegfall der Rückkehrkoordinationen in den Ländern.

 

Im Workshop Antidiskriminierungsarbeit in der Working Group „Politische Partizipation von muslimisch gelesenen Menschen“ nahmen die Referenten Aziz Dziri (Türkische Gemeinde in Deutschland) und Erdal Tekin (Working Group „Politische Partizipation von muslimisch gelesenen Menschen“) die Antidiskriminierungsarbeit in den Blick. Dabei wurde den Teilnehmenden die Möglichkeit gegeben, sich zu ihren Erfahrungen und Berührungspunkten mit dem Thema in ihrer Arbeit auszutauschen. Es wurde über Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf antimuslimischen Rassismus (AMR) gesprochen und in Kleingruppen sowie im Plenum Empfehlungen diskutiert, die etwa durch die CLAIM Allianz oder den Unabhängigen Expert*innenkreis Muslimfeindlichkeit erarbeitet wurden. Offensichtich wurde dabei, dass der strukturelle Blick auf AMR essenziell ist – Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung wurden als relevante Akteure beschrieben, deren Handeln noch entschlossener sein müsse. Es wurde jedoch schnell deutlich, dass auch dies nicht ausreichend ist, da (antimuslimischer) Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Phänomen darstellt. Die Teilnehmenden waren überzeugt, dass AMR als eigenes Feld, unabhängig vom Zusammenspiel mit islamistischem Extremismus, bearbeitet werden muss.

Der Workshop Prävention gelingt nur „nebenbei“ – Möglichkeiten der Resilienzstärkung in Pädagogik und universeller Präventionsarbeit wurde durchgeführt von Dr. Tim Müller (Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität Berlin) und Dr. Jochen Müller (ufuq.de). Zunächst stellten die Referenten das Forschungsprojekt „Radikalisierungsbezogene Resilienz im Jugendalter“ vor und gaben eine Einführung zum Resilienzbegriff. Auf Basis der Erfahrungen in den eigenen, unterschiedlichen Arbeitsbereichen erarbeiteten die Teilnehmenden im Anschluss Risiko- und Resilienzfaktoren in Bezug auf eine Hinwendung zu extremistischen Ideologien und Gruppierungen. Anhand ihrer Forschungsergebnisse zeigten die Referenten danach Möglichkeiten auf, die Widerstandsfähigkeit gegenüber extremistischen Ideologien zu erhöhen (z.B. Aufbau von Ressourcen zur Bewältigung von (Alltags-)Belastungen, Abbau von Bildungshürden). Als Beispiel für eine Intervention wurde die Methode der „Self-Affirmation“ vorgestellt, die sich in Kombination mit Elementen der politischen Bildungsarbeit als wirksam zur Erhöhung der Resilienz gegenüber extremistischen Ideologien gezeigt hat. Die Teilnehmenden diskutierten, welche konkreten Anwendungsmöglichkeiten der Methode sie in ihren jeweiligen spezifischen Arbeitskontexten sehen. Deutlich wurde dabei die Schwierigkeit, resilienzstärkende Maßnahmen mit oft knappen zeitlichen und personellen Ressourcen umzusetzen. Abschließend betonten die Referenten, dass Resilienzförderung auf individueller Ebene nicht bedeute, dass Individuen die alleinige Verantwortung für gesellschaftliche Problemlagen zugewiesen werde. Gleichzeitig könne die Förderung starker, resilienter Individuen diese eben in die Lage versetzen, sich aktiv für die Veränderung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse einzusetzen.

Zum Abschluss des Fachtags präsentierten Dr. Hande Abay Gaspar, Aziz Dziri, Claudia Dantschke und Dr. Tim Müller eine kurze Zusammenfassung ihrer jeweiligen Workshops. Im Anschluss diskutierten sie im Rahmen einer Fishbowldiskussion untereinander und mit dem Publikum, welche Implikationen sich aus ihren Workshops für die Praxis der Präventionsarbeit ergeben. Dabei wurden insbesondere die Herausforderungen thematisiert, die sich für Präventionsprojekte ergeben, wenn Förderprogramme durch eine defizitorientierte und sicherheitspolitische Ausrichtung geprägt sind. Hier wurde vor allem der Wunsch nach mehr Spielraum für eine unabhängige Ausgestaltung von Projekten und die Vermeidung von stigmatisierenden Vorannahmen laut.

 

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