6. Dezember 2022 | BAG RelEx

„Radikalisierungs­prävention im Kontext gesellschaftlicher Polarisierung“ – Rückblick zum Fachtag

Bei unserem Fachtag am 15. September 2022 haben wir uns der Radikalisierungsprävention im Kontext gesellschaftlicher Polarisierung gewidmet. Lesen Sie hier einen ausführlichen Rückblick zu den Inhalten. 

 

Die Spaltung der Gesellschaft wird in verschiedenen Kontexten und aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert. International werden häufig die USA als Beispiel aufgeführt, doch auch in Deutschland werden entlang unterschiedlicher Konfliktlinien Spaltungstendenzen aufgezeigt, verdeutlicht oder negiert. Um sich diesem Thema anzunähern, fand am 15. September 2022 unser Fachtag unter dem Titel Radikalisierungsprävention im Kontext gesellschaftlicher Polarisierung – Chancen und Grenzen phänomenübergreifender Arbeit in Kassel statt.

Für eine möglichst breite Perspektive auf Polarisierungs- und Spaltungstendenzen innerhalb der deutschen Gesellschaft war der Fachtag explizit phänomenübergreifend ausgerichtet. Insbesondere wurde der Frage nachgegangen, inwiefern phänomenspezifische Ansätze in der Extremismusprävention sinnvoll sind und wie diese gegebenenfalls durch phänomenübergreifende Ansätze ergänzt werden können. Nachdem die Grundlagen für den weiteren Verlauf der Veranstaltung in den Auftaktvorträgen von Rüdiger José Hamm (BAG RelEx) sowie Hande Abay Gaspar (FGZ, HSFK) gelegt wurden, konnten die Teilnehmer*innen sich in den anschließenden Infoshops mit den jeweiligen Expert*innen zu Entwicklungen und Erfahrungen zu unterschiedlichen Phänomenen austauschen. Neben dem Phänomenbereich Islamismus (Prof. Jens Ostwaldt, Dženeta Isaković ) wurden Infoshops zu den Phänomenen Christliche Rechte (Henning Flad), Rechtsextremismus (Dr. Volker Haase, Tobias Lehmeier) und Verschwörungsideologien (Josef Holnburger, Tobias Meilicke) angeboten. Um auch in den Infoshops eine möglichst große Perspektivenvielfalt zu gewährleisten, wurden alle Infoshops von einer*m Wissenschaftler*in sowie einem*r Praktiker*in geleitet.

Abgeschlossen wurde die Veranstaltung durch einen Vortrag von Manuela Freiheit (IKG Universität Bielefeld) und einer Podiumsdiskussion unter der Teilnahme von Silke Baer (cultures interactive e. V., Vorstand BAG RelEx), Jamuna Oehlmann (Co-Geschäftsführerin BAG RelEx) und Alexander Gesing (IFAK e. V.). Nachdem sich Manuela Freiheit aus wissenschaftlicher Perspektive der Frage nach Möglichkeiten und Grenzen phänomenübergreifender Radikalisierungsprävention angenommen hatte, diskutierten die Expert*innen auf dem Podium diese Frage aus Sicht der Praxis.

 

Die inhaltliche Grundlage für den weiteren Fachtag bildete der Vortrag von Rüdiger José Hamm (Co-Geschäftsführer der BAG RelEx). In seinem Vortrag mit dem Titel Konflikte und Polarisierungen: Ist unsere Gesellschaft gespalten? umriss er ein Verständnis von Konflikten, Konfliktlinien und Polarisierung. Er ging den Fragen nach, welche Konflikte in Deutschland vorherrschen, entlang welcher Konfliktlinien sie verlaufen und inwiefern man überhaupt von einer gesellschaftlichen Polarisierung in Deutschland sprechen kann. Auch stellte er die Verbindung zwischen möglichen Polarisierungstendenzen und dem zivilgesellschaftlichen Engagement in der Extremismusprävention her und verdeutlichte, warum gerade in diesem Kontext Demokratieförderung von großer Bedeutung ist. Die Prävention von religiös begründetem Extremismus findet immer auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Konfliktlagen statt, da sich dieser immer auch in der Ablehnung der Demokratie und deren Institutionen ausdrückt. Die ständige Berücksichtigung der gesellschaftlichen und individuellen Konfliktlagen sowie die Anerkennung gesellschaftlicher Schieflagen ist für die Arbeit daher essenziell.

 

Inwiefern soziale Spaltungen durch extremistische Akteure aufgegriffen werden, beleuchtete Hande Abay Gaspar (FGZ, HSFK) in ihrem Vortrag zu Attraktivität des Extremismus – Wie extremistische Narrative in Krisenzeiten Zuflucht bieten. Gesellschaftlich zentrale Konfliktthemen, wie u. a. der Russland-Ukraine-Krieg, der Klimawandel oder die Corona-Pandemie, sind auch Themen, die Extremist*innen aufgreifen. Sie versprechen sich hiervon Anschlussfähigkeit und die Erreichung einer größtmöglichen Zielgruppe. Über propagandistische Inhalte und Verschwörungsmythen versuchen sie Anhänger*innen zu gewinnen und für öffentlichen Protest zu mobilisieren. Die Feindbilder, die unabhängig von Extremismusphänomenen vorherrschen, weisen dabei teilweise deutliche Überschneidungen auf. Um der Polarisierung gesellschaftlicher Konflikte durch extremistische Akteure zu begegnen, braucht es aus Sicht von Abay Gaspar die Zusammenarbeit von demokratischen Akteuren auf allen Ebenen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene müssen darüber hinaus in relevanten Kompetenzen (z. B. Medienkompetenz, Diskursfähigkeit, Ambiguitätstoleranz) gestärkt und gesellschaftliche Unmutsäußerungen durch politische Entscheidungsträger*innen erstgenommen werden. Den Vortrag von Hande Abay Gaspar finden Sie in unserer Mediathek.

 

Anschließend an die beiden Hauptvorträge hatten die Teilnehmer*innen die Gelegenheit, sich in einem der ersten beiden Infoshops zu den Phänomenen Islamismus oder Christliche Rechte mit den referierenden Expert*innen auszutauschen. Der Infoshop Islamismus – Phänomenspezifische Perspektiven aus Praxis und Wissenschaft, geleitet von Dženeta Isaković (Mosaik Deutschland e. V.) und Prof. Jens Ostwaldt (IUBH) ging zuerst aus wissenschaftlicher Perspektive auf grundsätzliche Fragen in Bezug auf phänomenspezifische und – unspezifische Ansätze der Radikalisierungsprävention ein. Dabei wurde u. a. angeregt, kritisch zu hinterfragen, ob Präventionsansätze mit fördernder und empowernder Ausrichtung überhaupt als Prävention bezeichnet werden könnten, da per Definition dem Präventionsbegriff eine Verhinderungslogik inhärent sei. Im Anschluss wurde den Teilnehmenden ein Einblick in die praktische Präventionsarbeit gegeben. Dabei ging es unter anderem um die Erfahrungen in der Projektarbeit in primärpräventiven Angeboten, die gezeigt haben, dass der Fokus auf die Stärkung positiver Ressourcen und auf (phänomenübergreifende) Ausgrenzungsprozesse sowie die Erweiterung der Zielgruppe zielführend seien. So könne für die Gemeinsamkeiten von Radikalisierungsprozessen sensibilisiert, Vorurteile bekämpft und Empathie gefördert werden. Phänomenspezifisches Wissen sei hierdurch jedoch nicht obsolet geworden, sondern insbesondere bei Vorfalls bezogenen Anfragen weiterhin notwendig.

 

Hennig Flad (BAG Kirche + Rechtsextremismus) gab in seinem Infoshop Christliche Rechte – Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis Einblicke darin, wie rechte Gruppierungen vermehrt versuchen, Einfluss im kirchlichen Raum zu gewinnen. Dabei stellte er einige wesentliche Akteure der Szene vor, die sich in Ihren Schriften und Texten aus rechtskatholischer und evangelikaler Sicht mit theologischen Fragestellungen auseinandersetzen. Zudem arbeitete er die enge Verbindung des neurechten Milieus und christlichen Strukturen heraus. Wie erfolgreich neurechte Einflussnahme und Angebote in den Kirchen angenommen werden, zeigen aus seiner Sicht Beispiele für Landgewinne in kirchlichen Strukturen. Dennoch machte er deutlich, dass es rechtspopulistischen Vertreter*innen bisher nicht oder nur selten gelungen sei, in relevante kirchliche Gremien gewählt zu werden. Denn Kirchen stellen durch ihre Flüchtlings- und Gleichstellungspolitik auch durchaus ein Feindbild des Rechtspopulismus dar. Dies macht sie jedoch nicht frei von spürbarer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in den eigenen Reihen und vor allem nicht von ihrer enormen Verantwortung, sich lauter zu positionieren und selbstkritisch zu betrachten.

 

In der zweiten Runde der Infoshops hatten die Teilnehmer*innen erneut die Möglichkeit, sich über die neuesten Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis von einem aus zwei weiteren Phänomenbereichen zu informieren. Im Infoshop Rechtsextremismus in Wissenschaft und Praxis teilten die Experten (BAG Ausstieg zum Einstieg) und Dr. Volker Haase (CJD Nord) ihr Wissen mit den Teilnehmenden. Sie gaben zuerst einen Überblick über die theoretischen Grundlagen zum Rechtsextremismus sowie über aktuell vorherrschende Narrative und Entwicklungen in der Szene. Zudem lieferte Volker Haase Einblicke in die Praxis der Präventions- und Ausstiegsarbeit im Themenfeld. Ein besonderer Fokus lag dabei auf dem Einfluss von (vor allem frühkindlichen) Bindungserfahrungen auf das Verhalten von Menschen. Er zog Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Bindungstypen und möglichen Hinwendungsmotiven und bot den Teilnehmer*innen Handlungsmöglichkeiten in der pädagogischen Arbeit an. Aus seiner Sicht sei es wichtig, durch Beziehungs- und Biographiearbeit alte Bindungs- und Handlungsmuster aufzudecken und den Klient*innen die Möglichkeit zur Schaffung neuer Bindungserlebnisse zu ermöglichen.

 

Im Infoshop Quo Vadis Querdenken gab Josef Holnburger (CeMAS) einen Überblick über die verschwörungsideologisch geprägte Szene. Er führte aus wissenschaftlicher Perspektive die Gründe für einen Glauben und Festhalten an Verschwörungsideologien dar und verdeutlichte vor allem die Anziehungskraft der Szene aus sozialpsychologischer Sicht. Darüber hinaus gab er einen Überblick über die neuesten Entwicklungen der Szene sowohl bezüglich der relevanten Themen und Inhalte als auch deren Zusammensetzung und aktuell führenden Persönlichkeiten. Tobias Meilicke (Beratungsstelle Veritas) gab mit seinen Ausführungen Einblicke in die praktische Arbeit und seine Erfahrungen in der Beratung von Betroffenen im Kontext Verschwörungsideologien. Die beiden Experten gaben somit einen Überblick über die unterschiedlichen Motive, die Menschen an Verschwörungsideologien glauben lassen und arbeiteten auch die Gefahren von Radikalisierung im Milieu von Verschwörungsgläubigen heraus. Zudem lieferten sie Ansätze zum Umgang mit Herausforderungen im familiären Kontext sowie in der professionellen Beratungsarbeit.

 

Nachdem in den Infoshops unterschiedliche Extremismusphänomene betrachtet wurden, stellte sich Manuela Freiheit (IKG Universität Bielefeld) in ihrem Abschlussvortrag unter dem Titel Phänomenünbergreifende Radikalisierungsprävention – Möglichkeiten und Grenzen der Frage nach Gemeinsamkeiten in Hinwendungsprozessen und Risikofaktoren und einer möglichen Begegnung unterschiedlicher Phänomene durch eine phänomenübergreifende Ausrichtung der Präventionsangebote. Phänomenübergreifende Angebote würden zwar u. a. Stigmatisierungsprozesse vermeiden und sich stärker an Lebenswelt und Sozialraum der Zielgruppen orientieren, könnten jedoch spezifische Herausforderungen der jeweiligen Phänomene nicht ausreichend beleuchten. Aus ihrer Sicht haben daher sowohl phänomenspezifische als auch phänomenunabhängige Ansätze, je nach Kontext und Präventionsebene, ihre Berechtigung. Es muss in der Konzeptentwicklung und auch in der Praxis dauerhaft reflektiert und präzisiert werden, in welchen Konstellationen welche Schwerpunktsetzung sinnvoll ist. Darüber hinaus sollte in Wissenschaft und Praxis Klarheit in der Verwendung der Begrifflichkeit herrschen, um auch die Grenzen zwischen Extremismusprävention auf der einen Seite und allgemeinen Angeboten zur politischen Bildung und demokratiefördernden Maßnahmen auf der anderen Seite nicht zu verwischen und den Präventionsbegriff nicht zu überdehnen. Eine Aufzeichnung des Vortrags von Manuela Freiheit finden Sie in unserer Mediathek.

 

Der gleichen Frage wie Manuela Freiheit aus wissenschaftlicher Perspektive gingen die Expert*innen in der Podiumsdiskussion aus praktischer Perspektive nach. Jamuna Oehlmann (Co-Geschäftsführerin BAG RelEx), Silke Baer (cultures interactive e. V., Vorstand BAG RelEx) und Alexander Gesing (IFAK e. V.) diskutierten unter dem Titel Phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention aus Perspektive der Praxis über die Vor- und Nachteile phänomenübergreifender Ansätze sowie die Notwendigkeit und auch mögliche Fallstricke phänomenspezifischer Angebote in der Radikalisierungsprävention. Auch aus ihrer Sicht braucht es eine klare Abgrenzung zu pädagogischen Angeboten außerhalb der Extremismusprävention. Zudem sprachen auch sie sich dafür aus, dass es sowohl phänomenspezifische als auch phänomenübergreifende Angebote geben muss, um den Herausforderungen angemessen begegnen zu können. Zudem spielt auch die Ebene der Prävention eine entscheidende Rolle. Sehen sie in der Ausrichtung von primär- und sekundärpräventiven Angeboten bessere Möglichkeiten, Angebote auch phänomenübergreifend zu gestalten, so ist in der tertiären Prävention sowohl in der Zielgruppenansprache als auch im Beratungssetting eine phänomenspezifische Ausrichtung durchaus sinnvoll – auch wenn phänomenunabhängiges Fachwissen, beispielsweise zu Beratungsmethoden, unabdingbar ist.

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