24. Juni 2022 | BAG RelEx
Fachgespräch zu jihadistischen Bewegungen in Syrien und im Irak – ein Rückblick
In unserem Fachgespräch am 15. Juni 2022 haben wir uns damit beschäftigt, welche Entwicklungen mit Bezug auf den sogenannten Islamischen Staat (IS) in Syrien und im Irak zu beobachten sind. Außerdem haben wir uns gefragt, ob sich diese Entwicklungen auch in deutschsprachigen sozialen Medien widerspiegeln, welche anderen relevanten Entwicklungen sich derzeit online im Phänomenbereich Islamismus zeigen und welche möglichen Handlungsansätze sich daraus für die Präventionsarbeit ergeben.
Für die Kurzvorträge konnten wir zwei Experten aus Wissenschaft und Praxis gewinnen:
- Fabien Merz
Fabien Merz ist Senior Researcher für Schweizer und euro-atlantische Sicherheit am Center for Security Studies der ETH Zürich. Er ist Mitherausgeber der Reihe „CSS Analyses in Security Policy“, die sich mit aktuellen Entwicklungen in der internationalen Sicherheit und strategischen Angelegenheiten befasst. Merz hat Abschlüsse in Internationalen Beziehungen, Sicherheitsstudien und Terrorismusforschung von den Universitäten Genf St. Andrews in Großbritannien und Standford und absolviert derzeit einen Executive Master in International Strategy and Diplomacy an der London School of Economics and Political Science. Zu seinen Forschungsgebieten gehören die schweizerische und europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die MENA-Region sowie Terrorismusbekämpfung und Prävention.
- Ahmet Numan Çakilkum
Ahmet Numan Çakilkum ist Projektleiter bei Local Streetwork Online/Offline seit Anfang 2022. Das Projekt ist bei AVP – Akzeptanz, Vertrauen Perspektive e. V., einer unserer Mitgliedsorganisationen, in Düsseldorf angesiedelt. Çakilkum ist Islamischer Theologe (BA), Islamwissenschaftler und Arabist (MA). Er hat langjährige Berufserfahrung in Projekten mit Bezug zu dem Phänomenbereich Salafismus sowie als Koordinator im Präventionssektor.
Der sogenannte Islamische Staat: eine Bestandsaufnahme
Im ersten Vortrag gab Fabien Merz einen Überblick über den aktuellen Zustand des sogenannten Islamischen Staats (IS), insbesondere in Syrien und im Irak, und über die daraus folgenden Implikationen für die Sicherheitslage in Europa.
Zunächst ging er in einer kurzen Rückblende auf die Hochzeiten des IS und den Ausruf seines „Islamischen Kalifats“ in den Jahren 2014-2015 sowie den Niedergang ab 2016 ein, als der IS nach und nach große Teile seiner Gebiete im Irak und in Syrien verlor.
Im Anschluss ging Merz auf den heutigen Zustand der Organisation ein. Er umriss, wie der IS sich an die neuen Gegebenheiten angepasst habe, indem er zu einem mit aufständischen und terroristischen Gruppen assoziierten Modus Operandi, dem Kampf aus dem Untergrund, zurückgekehrt sei. Dadurch wirke der IS derzeit nach wie vor destabilisierend auf die Region, scheine sich auch Fähigkeiten für gelegentliche größere Aktionen bewahrt zu haben und werde vermutlich versuchen, wieder an Stärke zu gewinnen. Jedoch stelle er derzeit keine existenzielle Bedrohung für den irakischen und syrischen Staat dar.
Darauf aufbauend ging Merz darauf ein, welche Implikationen die dargestellten Entwicklungen auch auf die Sicherheitslage in Europa haben. Aufgrund der Gebietsverluste und der Verdrängung in den Untergrund werde derzeit davon ausgegangen, dass der IS seine Fähigkeit verloren habe, groß angelegte Anschläge im Ausland direkt zu verüben oder seine Anhänger*innen zu solchen zu inspirieren. Im Zusammenhang mit einer möglichen Gefährdung für Europa ging Merz auch auf die Situation von in der Region inhaftierter IS-Anhänger*innen und ihrer Familien ein, von denen eine nicht unerhebliche Anzahl aus Europa stammt. Die schlechte Situation in den Gefängnissen und Lagern berge die Gefahr einer (Re-)Radikalisierung und stelle damit ein Sicherheitsrisiko dar. Daher befürworte er eine Rückführung dort inhaftierter europäischer Staatsangehöriger.
In Bezug auf das globale Netzwerk des IS konstatierte Merz, dass die Stärke der verschiedenen regionalen Ableger und alliierten Gruppierungen in den letzten Jahren starken Schwankungen unterlag. In letzter Zeit an Bedeutung gewonnen hätten die westafrikanische Provinz des IS, der Ableger der Gruppierung in der Sahararegion, in Mosambik, der Zentralafrikanischen Republik sowie in Afghanistan. Diese IS-Ableger scheinen sich derzeit jedoch vorwiegend auf regionale Ziele zu fokussieren und stellten damit keine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit in Europa dar.
Merz schloss mit dem Hinweis, dass der Aufstieg des IS gezeigt habe, dass sich die Gruppierung am besten in einem Umfeld der Instabilität, schwacher staatlicher Institutionen und einer entrechteten oder unterdrückten Bevölkerung entfalten könne. Daher gelte es, diese Hauptursachen für den Aufstieg der Terrormiliz anzugehen, um zu verhindern, dass sich der IS halten und zukünftig sogar wieder an Stärke gewinnen könne.
Den Mitschnitt des Vortrages finden Sie in unserer Mediathek. Sie wollen mehr zu der Frage des Umgangs mit Rückkehrer*innen aus dem sogenannten Islamischen Staat erfahren? In dem Fall empfehlen wir Ihnen ebenfalls einen Blick in die Mediathek. Dort finden Sie Kurzvorträge von Prof. Peter Neumann und Sofia Koller zur Frage, was wir aus früheren Situationen lernen können und wie andere europäische Staaten mit der Situation umgehen. Außerdem diskutieren wir mit Vertreter*innen aus Politik und Praxis, wie wir mit Rückkehrer*innen hier in Deutschland umgehen können, welche Angebote es bereits gibt und welche wir zukünftig benötigen.
Die Rolle dschihadistischer Bewegungen in sozialen Medien
Im zweiten Vortrag ging Ahmet Numan Çakilkum auf die Rolle dschihadistischer Bewegungen in sozialen Medien ein und gewährte Praxiseinblicke aus der Präventionsarbeit. Dabei legte er zunächst den Fokus auf Strategien und Plattformen der IS-Propaganda. Die Propaganda sei dabei unter anderem gekennzeichnet von stark religiöser Sprache und exklusivistischer Rhetorik, einer durch ein klares Freund-Feind-Schema geprägten Weltsicht sowie Verschwörungstheorien.
Anschließend ging Çakilkum der Frage nach, ob deutsche Akteure dschihadistische Entwicklungen in Syrien und dem Irak thematisierten. Dschihadistischer Content sei in den sozialen Medien nach wie vor präsent, jedoch nicht mehr so öffentlich zugänglich wie in der Vergangenheit. Grund dafür sei, dass in den letzten Jahren viele dschihadistische Kanäle in den sozialen Medien gelöscht wurden (Deplatforming). Eine Herausforderung sei weiterhin, dass deutschsprachige IS-Unterstützer*innen zu anderen Plattformen wechselten und damit Maßnahmen auswichen. Außerdem nutzten sie neue, verschlüsselte Messengerdienste.
In Bezug auf die Rolle, die der Angriffskrieg in der Ukraine derzeit in den online-Aktivitäten islamistischer Akteure spiele, machte Çakilkum verschiedene relevante Erzählstränge aus. Besonders thematisiert würden unter anderem die Ungleichbehandlung ukrainischer Geflüchteter im Gegensatz zu Geflüchteten aus mehrheitlich muslimischen Ländern, sowie die unterschiedlichen Maßstäbe des „Westens“ hinsichtlich der Aufmerksamkeit für den Krieg gegen die Ukraine im Vergleich zu Konflikten und Kriegen in mehrheitlich muslimischen Ländern. Besonderen Zulauf hätten derzeit tschetschenische Gruppen, z. B. auf Telegram. In diesen Gruppen würden Putin und Russland als Verbündete glorifiziert, tschetschenische Soldaten heroisierten, Minderheiten diskriminierten und Verschwörungserzählungen verbreiteten. Interessanterweise distanzierten sich der IS und al-Qaida von diesem Schulterschluss mit Russland.
Zuletzt ging Çakilkum auf mögliche Handlungsansätze der zivilgesellschaftlichen Präventionsarbeit in Bezug auf online-Aktivitäten dschihadistischer und islamistischer Akteure ein. Dabei betonte er, dass repressive Ansätze seitens der Sicherheitsbehörden und Löschaktionen von Plattformen sinnvoll, aber nicht ausreichend seien und in diesem Bereich auch zivilgesellschaftliches Engagement gefragt sei. Mögliche Strategien seien hier, Gegennarrative zu kreieren und die Medienkompetenz, insbesondere von Jugendlichen, dahingehend zu fördern, dass sie Fake-News und Rekrutierungsversuche von Extremist*innen erkennen könnten. Ein weiterer Ansatz, wie beispielsweise des Projekts CEOPS, sei die Ausbildung von jugendlichen Multiplikator*innen, um extremistischen Narrativen online entgegenzuwirken.
Auch den Vortrag von Ahmet Numan Çakilkum finden Sie in unserer Mediathek. Wenn Sie mehr zu online Präventionsansätzen erfahren wollen, in der Mediathek finden Sie ebenfalls ein Video, indem der Ansatz des online Streetworks des Schwesterprojekts von Local Streetwork Online/Offline vorgestellt wird.
Die Veranstaltung fand im Rahmen von KN:IX statt.