4. Mai 2021 | BAG RelEx
Fachgespräch Ansätze in der Beratungsarbeit – ein Rückblick
Im Rahmen des Fachgesprächs haben wir eine Plattform zum Austausch und zur Diskussion über verschiedene Ansätze der Ausstiegsarbeit geboten. Hierfür gab es nach den einzelnen Impulsvorträgen unserer Referent*innen Zeit für Diskussionen, in der die Teilnehmenden Erfahrungen, Fachwissen und die vielfältige Expertise austauschten.
Die Träger- und Projektlandschaft im Bereich der Radikalisierungsprävention bietet aufgrund der Förderstrukturen in Deutschland eine große Vielfalt. Das gilt ebenso für Ansätze, die der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit zugrunde liegen. Inwiefern die jeweiligen Ansätze speziell in der tertiären Prävention gegen religiös begründeten Extremismus von Vorteil sind, ist immer wieder Grundlage für Diskussion. Dies haben wir mit unserem Online-Fachgespräch Beratungsansätze in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit, am 17. November 2020, aufgegriffen. Die Impulsvorträge zu den folgenden Themen wurden gehalten von:
- Vera Dittmar (IFAK e. V.)
Systematische Beratung als Ansatz zur Deradikalisierung
Vera Dittmar ist wissenschaftliche Leiterin der Forschungsstelle Deradikalisierung (FORA). Sie ist für das Beratungsnetzwerk Grenzgänger (in Trägerschaft von IFAK e. V.) tätig und forscht in Kooperation mit dem Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Sie ist Mitglied von FoPraTex (Forschung-Praxis-Transfer-Islamistischer Extremismus). Ihr aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit den Potentialen der systemischen Beratung als Ansatz zur Deradikalisierung. Neben soziologischen und forschungsmethodischen Fragestellungen beschäftigt sich Vera Dittmar mit religiös begründetem Extremismus in islamistischer Ausprägung. Ihr neues Handbuch wird im kommenden Jahr erscheinen: „Systemische Beratung in der Extremismusprävention. Theorien, Praxis und Methoden“.
- Mohammed Shehata (Türkische Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V.)
Theologische Ansätze in der Beratungsarbeit
Mohamed Shehata ist seit Februar 2018 Mitarbeiter im Projekt Kick-Off – Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe in Trägerschaft der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. (TGS-H). Im Rahmen seiner Tätigkeit leitet er muslimische Gesprächsgruppen und führt Einzelgespräche in Justizvollzugsanstalten sowie der Bewährungshilfe. Im September 2019 promovierte an der Al-Azhar Universität in Kairo im Bereich der Religionssoziologie am Lehrstuhl für Islamwissenschaft in deutscher Sprache.
- Kerstin Sischka und Dr. Christoph Bialluch (Fachstelle Extremismus und Psychologie)
Der psychotherapeutische Ansatz in der Beratungsarbeit
Kerstin Sischka absolvierte ihre Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin bis 2019 am Berliner Psychoanalytischen Institut (BPI). Parallel dazu arbeitet Sie seit langem als Beraterin und Wissenschaftlerin in Netzwerken der Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitung, teilweise mit Familienangehörigen radikalisierter junger Menschen, aber auch mit Straffälligen und ausstiegsbereiten Personen. 2018 gründete sie gemeinsam mit Kolleg*innen die Fachstelle Extremismus und Psychologie (FEP). Im Rahmen der Fachstelle initiierte sie das Projekt NEXUS-Psychologisch-Therapeutisches Netzwerk Justiz und Extremismus und ist seit 2020 am Projekt TRIAS – Neue Wege der Kooperation in der Extremismusprävention beteiligt. Beide Projekte werden in Kooperation mit Violence Prevention Network gGmbH realisiert.Christoph Bialluch ist psychologischer Psychotherapeut. Schon während seines Studiums entwickelte er großes Interesse an politischer Psychologie und Psychoanalyse. Er arbeitete im klinischen Kontext sowie als Lehrender in verschiedenen Positionen. Seit 2015 engagiert er sich im Bereich der Extremismusprävention und Deradikalisierung und ist derzeit an der Durchführung der Projekte NEXUS und Trias, beide in Trägerschaft der FEP, beteiligt.
Systemische Beratung als Ansatz zur Deradikalisierung
Vera Dittmar stellte die Elemente der systemischen Beratung vor, die in der Deradikalisierungs-, Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit bei islamistischer Radikalisierung genutzt werden, um Angehörige, Betroffene und Fachkräfte zu beraten.
Die Grundlagen der systemischen Beratung basieren auf der Systemtheorie, der systemischen Familientherapie und der Beratungswissenschaft. Zudem bezieht der Ansatz Elemente des Empowerments im Sinne der Sozialen Arbeit ein, um das Ziel der Selbstermächtigung und Selbstbefähigung erreichen zu können. Individuelle Ressourcen der Klient*innen werden dabei wertgeschätzt und weiterentwickelt. Entsprechend des Ansatzes der systemischen Beratung werden in die Beratung mitgebrachte Problemlagen analysiert. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse soll beispielsweise eine Aktivierung von Ressourcen und Netzwerken vorangebracht werden. Dadurch soll eine Verbesserung der Lebenssituation der Beratungsnehmer*innen erreicht werden. Systemische Beratung zielt auf die Erweiterung der Wahrnehmungsmöglichkeiten von Klient*innen vor dem Hintergrund der systemischen Einbindung in die eigene Umwelt und biografischen Entwicklung ab. Dadurch können die Handlungsmöglichkeiten der Klient*innen erweitern werden. Systemische Beratung beachtet die Ressourcen und setzt auf die Autonomie der Ratsuchenden. Dabei wird großer Wert auf einen respektvollen und wertschätzenden Dialog gelegt.
Radikalisierungen mit islamistischer Ausrichtung betreffen sowohl Individuen (die sich in diese Richtung radikalisieren) als auch deren soziales Umfeld (z. B. Familie, Freundeskreis, Schule, Arbeit). Beide Zielgruppen können mit systemischer Beratung erreicht und unterstützt werden. Da auch Radikalisierungen als ein in verschiedene Systeme eingebundener Prozess zu verstehen sind, ist die Einbindung des systemischen Ansatzes in die Präventions- beziehunsgweise Ausstiegsarbeit eine notwendige Folge. In vielen Fällen ergibt sich daraus, dass zumeist mit dem Umfeld der betroffenen Personen gearbeitet wird, um die Familienangehörigen, Freund*innen oder Lehrer*innen/Arbeitgeber*innen dabei zu unterstützen, eigene Ressourcen zur Problembewältigung aktivieren zu können. Diese Unterstützung wirkt sich dann über das Umfeld auch direkt auf die Betroffenen aus.
Theologische Ansätze in der Ausstiegsarbeit
Mohammed Shehata beleuchtete in seinem Vortrag die Rolle von Religion in der Ausstiegsarbeit. In der Praxis wird diesbezüglich debattiert, inwiefern Religion eine Rolle bei der Ausstiegsarbeit spielen kann, soll, oder darf. Um sich dieser Frag zu widmen, stellte Mohammed Shehata den verschiedenen historischen Umgang mit Religion bei Maßnahmen gegen Islamismus beziehungsweise islamistischen Extremismus in Ägypten, Algerien, Saudi-Arabien und Deutschland vor.
Im Zuge des stärker werdenden Islamismus im Ägypten der 1970er Jahre wurde Religion bei der Vermittlung zwischen dem Sicherheitsapparat und der terroristischen Gruppierung al-Dschamaa al-islamiyya berücksichtigt. Im Ergebnis wurde mit Hilfe der Vermittlung von religiösen Autoritäten eine Absage an die Gewalt und die Revision früherer Positionen der Islamist*innen erreicht.
Algerien sieht sich seit fast 40 Jahren einer islamistischen Bewegung gegenüber. Ursprung dieser Entwicklung sind die Abwehrreaktionen seitens großer Bevölkerungsteile gegen die postkolonialen Eliten des Landes, deren Machtkonzentration sowie deren als „westlich“ und „unislamisch“ abgelehntes gesellschaftlich-kulturelles Projekt und Führung des Landes. Repression und laissez-faire Verhalten gegenüber Islamist*innen wechselten sich in der Geschichte zunächst ab und es gab lange Zeit keine klare Strategie. Erst im Zuge des sich abzeichnenden Siegs der Islamischen Heilsfront (FIS) bei den Wahlen 1991, des Militärputsches und des anschließenden Bürgerkriegs, wurde eine Strategie der Repression gegen islamistische Gruppierungen ins Leben gerufen. Ab Ende der 1990er Jahre wurden zudem mit Maßnahmen der Sicherheitsbehörden Moscheen beobachtet, die Repression erhöht und gleichzeitig religiöse Gruppen staatlich gefördert, die als Gegengewicht zum Islamismus fungieren und ihn somit zurückdrängen sollten. Seit 2002 werden im bildungspolitischen Bereich Maßnahmen gefördert, die ein unpolitisches Religionsverständnis vermitteln.
Der Wahhabismus ist als puristisch-traditionalistische Richtung des neuzeitlichen sunnitischen Islams in Saudi-Arabien Staatsreligion. Der Umgang mit Islamist*innen seitens der Regierung ist von jeher ambivalent und nach innen gerichtet ein anderer Umgang als der nach außen. Während das saudische Regime aktiv versucht, ihre religiöse Auslegung des Wahhabismus im Ausland zu verbreiten und gezielt die Gründung von Schulen, Moscheen und Stiftungen finanziell unterstützt, werden im Inland radikale islamistische Gruppierungen als Bedrohung für die innere Sicherheit wahrgenommen und vom Regime bekämpft. Islamistische Gruppierungen im Inland betrachten die saudische Herrschaftsdynastie als dekadent und lehnen die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika ab. Der saudische Staat bezieht sich in seine Maßnahmen gegen islamistische Gruppierungen im eigenen Land auf die eigenen religiösen Autoritäten, die über eine breite Legitimation innerhalb der muslimischen Welt verfügen.
In Deutschland wurden seit dem 11. September 2001 zahlreiche staatliche Maßnahmen gegen Islamismus beziehungsweise islamistischen Extremismus auf den Weg gebracht. Die Einbindung von Religion wird seitdem immer wieder neu diskutiert. Der Umgang mit Religion, z. B. über die Ausbildung und Finanzierung von Theolog*innen in die Ausstiegsarbeit, wird von Bundesland zu Bundesland anders geregelt beziehungsweise anders berücksichtigt. Auch in der zivilgesellschaftlichen Praxis der Demokratieförderung und Prävention herrscht keine Einigkeit darüber, inwiefern Religion, religiöse Aspekte oder gar Theolog*innen und Geistliche in die Arbeit und Maßnahmen einbezogen werden sollen.
Generell kann festgehalten werden, dass Religion als Faktor der Ausstiegsarbeit/Deradikalisierung folgende Vor- und Nachteile hat:
Vorteile
- „Authentische“ Argumentation bei theologischen/religiösen Fragen
- Besserer Zugang zu religiösen Milieus
- Einsatz religiöser Autorität
- Muslim*innen als Multiplikator*innen und Botschafter*innen
Nachteile
- Fokus auf den „religiös“ ansprechbaren Teil der Zielgruppe
- Theologisierung der Extremismus-Problematik
- Verortung der Problematik als „Migrationsproblem“
- Schaffung neuer Abhängigkeitsstrukturen durch den Einsatz religiöser Hierarchien
Der psychotherapeutische Ansatz in der Deradikalisierungsarbeit
Kerstin Sischka und Cristoph Bialluch stellten den psychotherapeutischen Ansatz in der Ausstiegsbegleitung und Deradikalisierung dar. In diesem Arbeitsbereich haben die Fachkräfte häufig mit psychisch stark belastet Menschen zu tun, wobei auch das familiäre Umfeld relevant sein kann. Beispielsweise sind Inhaftierte oder Gefährdete im Justizvollzug Extremsituationen ausgesetzt, die sie psychisch belasten (können) – unabhängig davon, ob diese Belastungen auf psychische Erkrankungen hindeuten. Ebenso verhält es sich mit vielfältigen Herausforderungen im Zuge eines Ausstiegs aus einer islamistischen Szene oder Gruppierung. Psychische Belastungen können auch einen Distanzierungsprozess und Ausstieg anstoßen, der sinnvoll und klient*innenorientiert begleitet werden muss. Psychotherapeutische Expertise der Fachkräfte in der Ausstiegsberatung ist in jedem Fall sinnvoll. Für die Fachkräfte steht stets der einzelne Mensch als Patient*in im Vordergrund. Entsprechend der Standards des Arbeitsbereichs, muss den Klient*innen ein geschützter Rahmen geboten werden, in dem sie sich öffnen können. Auch gilt entsprechend der Standards der Arbeit Schweigepflicht für die Fachkräfte. Ausstiegsbegleitung ist auch hier zum großen Teil Beziehungsarbeit.
Psychotherapeut*innen in der Ausstiegsarbeit haben in der Regel mit Menschen zu tun, die sich durch eine Radikalisierung im Denken, Fühlen und Handeln verändert haben. Möglicherweise wurde Gewalt selbst ausgeübt und/oder erfahren. Ferner wurden sie potenziell Zeug*in oder Opfer von Gewalttaten oder haben durch andere aktive oder passive Taten Schuld auf sich geladen. In der Ausstiegsberatung geht es um eine individuelle Loslösung von der verinnerlichten Ideologie, die mit einer Stärkung des Ichs einhergeht. Zudem geht es um eine Loslösung der eigenen Identität beziehungsweise Identifizierung mit einer ideologisierten Gruppenzugehörigkeit und um eine Reflexion der erfahrenen Gewalt als Anstoß zum Umdenken.
Eine Zuwendung zum Extremismus wird hier als Symptom einer fehlgeleiteten psychischen Entwicklung oder als Lösungsversuch für eine schwierige psychische Lage verstanden. Insofern ist psychotherapeutische Arbeit im Kontext eines Ausstiegs aus extremistischen Gruppen und Denkweisen sowohl für Patient*innen, als auch für Psychotherapeut*innen eine anspruchsvolle Aufgabe. In der Arbeit werden Verfahren aus der Verhaltenstherapie, der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, der analytischen Psychotherapie und der systemischen Therapie angewendet.